Zum World Mental Health Day (GERMAN)
An English translation of this blog entry will follow.
Heute ist Internationaler Tag der psychischen Gesundheit (World Mental Health Day).
Irgendwann im ersten Lockdown las ich eine Kolumne des Schweizer Journalisten und Autors Constantin Seibt. Es war der erste Republik-Artikel, den ich zu Ende las, was doppelt ironisch ist, weil die Texte in der Republik bekanntlich länger sind als die Karriere von Roger Federer und die Anzahl offener Browser-Tabs auf meinem Computer (und Handy) vieles nahelegt, aber nicht den Schluss, dass ich Dinge normalerweise zu Ende führe (selbst dieser Text wäre fast daran gescheitert, dass ich googeln musste, ob jetzt "zuende führen" oder "zu Ende führen" richtig ist, und in dem Zusammenhang unabsichtlich zuerst [zu Erst?] eine halbe Stunde lang durch Twitter scrollte).
Seibt beschreibt in der Kolumne den Schreibprozess, mittels welchem er jahrzehntelang bei namhaften Schweizer Zeitungen wie der WOZ und dem Tages-Anzeiger seine Artikel produzierte:
"Ich versuchte zwar so gut wie immer, mindestens 24 Stunden vorher anzufangen. Aber meistens schrieb ich dann nur Gestammel. Stattdessen versank ich immer tiefer in neuen Akten und Notizen – eine Invasion von Stimmen, Stimmungen und Fakten, die in meinem Kopf Spiralen drehten, während ich zwei Dutzend Mal einen neuen ersten Absatz schrieb."
Irgendwann würde unweigerlich die Redaktion anrufen und sehr erbost fragen, wo der Text blieb (Seibt nennt die Redaktion in diesem Zusammenhang plastisch das "Erschiessungskommando").
Der Autor beschreibt sodann, was dieser Anruf jeweils bei ihm auslöste:
"[...] plötzlich sass jemand mit viel kälterem Blut in meinem Stuhl. Der Zensor in meinem Kopf, der jeden Satz für dumm, überflüssig oder unehrlich erklärt hatte, verzog sich ohne Protest – es ging nun nicht mehr um Perfektion, sondern ums Überleben. Es gab keine andere Rettung, als Satz für Satz vorwärtszuschreiben. Der Text fühlte sich nach einer Weile an wie ein Stück Klaviermusik. Ich hörte, was wohin gehört. Fast alle längeren Texte schrieb ich in einem Schwung, zwar viel zu spät, aber in kurzer Zeit."
Ich dachte beim Lesen: "Oh ja, das geht wunderbar auch mit Deutschaufsätzen, Vorträgen, Fallbearbeitungen, Masterarbeiten, Urteilsentwürfen und Gutachten." Die Kolumne beschreibt nämlich ziemlich genau das, was ich bei Leistungsnachweisen in Schule und Studium und später bei der Arbeit ebenfalls tat:
Warten, bis die Hütte brennt.
Wenn sich das stressig anhört: das ist es, und wie. Ans Eingemachte geht es allerspätestens, wenn es nicht nur in der Schule und im Studium, sondern auch im Beruf so weiterläuft. Denn dann hat frau zwei Möglichkeiten: Entweder sucht man sich einen Job, in welchem man 24/7 von (kurzen) Fristen, Notfällen, kreative Lösungen erfordernden Problemen und dergleichen umzingelt ist, dann kann sich die Aufschieberitis in der Regel gar nicht gross einstellen (sehr beliebt sind hierfür Notaufnahmen, Wirtschaftskanzleien, Medienhäuser wie Tageszeitungen, Radio und Fernsehen sowie andere kreative Berufe). Oder man kommt irgendwann dem Zusammenbruch nahe, weil es psychisch (und irgendwann auch physisch) einfach schwer zu ertragen ist, ständig in einigen Stunden dasjenige nachholen zu müssen, was andere in einer Woche machen (Vorgesetzte finden das übrigens auch nicht immer soooo lustig; für euch getestet).
Mir ging's seit circa 2005 zwischendurch immer mal wieder psychisch bescheiden, was ja auch nichts Besonderes, total Schlimmes oder Ehrenrühriges ist. Seit 2017 wurde jedoch insbesondere diese Stop-and-Go-Arbeitsweise mehr und mehr zu einem handfesten Problem; nicht dauernd, genau wie meine Produktivität kam auch das in Wellen. Es war von aussen für die meisten kaum ersichtlich, aber es war ein Problem.
Und jetzt? Seit einigen Monaten geht es mir sehr, sehr viel besser, und das nicht zuletzt deshalb, weil ich 2020 eine Kolumne las, in der ich mich wiedererkannte und welche mich - viel später, aber immerhin - dazu veranlasste, Hilfe zu suchen, die ich glücklicherweise auch bekam (high five und DANKE an alle Ärzt:innen, Psycholog:innen und sonstiges medizinisches Personal, die das Tag für Tag und zum Teil unter sehr widrigen Umständen möglich machen).
Und natürlich riesengrosses Dankeschön an alle da draussen, welche offen über ihre Baustellen sprechen und schreiben. Schweigen und Stigmata sind unnötig und verhindern nur, dass mehr Menschen sich Hilfe suchen.
Hier ist die zitierte Kolumne.